Saarbrücken, 24. April 2023 – Am Internationalen Tag des Versuchstieres (World Day for Laboratory Animals) steht die Anwendung von Tieren zur Erforschung und Entwicklung von Produkten für den Menschen im Mittelpunkt. Unter anderem in der Arzneimittelforschung sind umfangreiche Tierversuche fest vorgeschriebener Bestandteil des Zulassungsprozesses neuer Medikamente. Eine Verringerung der Zahl der Versuchstiere ist jedoch durch neue Ansätze zunehmend in Sicht. Am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), einem Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Kooperation mit der Universität des Saarlandes, entwickeln Forscher:innen erfolgreich alternative Modelle und sind dafür bereits ausgezeichnet worden.
Der Einsatz von Tierversuchen, zum Beispiel an Mäusen und anderen Nagetieren, in der Arzneimittelforschung ist notwendig, um eine Risikoabschätzung durchzuführen, bevor etwa ein potenzieller Wirkstoff am Menschen getestet wird. Dies gilt zum Beispiel auch für die Entwicklung neuer Antibiotika, bei denen ebenfalls sichergestellt werden muss, dass das neue Antibiotikum sicher ist und keine Nebenwirkungen aufweist. Bevor Wirkstoffe überhaupt am lebenden Tier (in vivo-Versuche) getestet werden, haben sie in der Regel bereits eine Vielzahl an Laboruntersuchungen durchlaufen. In diesen sogenannten in vitro-Studien werden Fragen gestellt wie: Interagiert der Wirkstoff ausreichend gut mit der gewünschten Zielstruktur? Bindet die Substanz an weitere Zielstrukturen, die zu Nebenwirkungen führen könnten? Gegen welche Erreger wirkt der Wirkstoffkandidat? Es stehen immer mehr und vor allem unterschiedliche in vitro-Experimente zur Verfügung, die ein detailliertes Bild von der Wirkungsweise der Substanz vermitteln. Jedoch können Fragen zum Verhalten eines potenziellen Wirkstoffes im Menschen oft nur im Versuch am lebenden Organismus beantwortet werden, da es sich hier um sehr komplexe Wechselwirkungen und Systeme handelt. Dazu gehören Studien, die die Absorption, die Distribution, den Metabolismus, die Elimination und die Toxizität einer Substanz untersuchen. Diese ADME-Tox-Studien ermitteln genau, wie sich eine Substanz im Organismus verhält und was der Körper mit der Substanz macht. Erst wenn diese Aspekte keine Hinweise auf Probleme geben, kann ein Arzneimittelkandidat in klinischen Studien getestet werden.
Doch auch für ADME-Tox-Studien gibt es neue Ansätze, die den Bedarf an Tiermodellen minimieren können. Einer der vielversprechendsten Ansätze ist das Zebrafisch-Larvenmodell (ZLM). Der Zebrafisch hat, was seine Erbinformation betrifft, eine erstaunlich hohe Ähnlichkeit mit dem Menschen: Etwa 70 Prozent seiner Gene sind ortholog mit dem Menschen. Das heißt, dass diese Gene in beiden Organismen vorkommen und eine hohe Übereinstimmung bei der Sequenz der DNA-Basen aufweisen. Bei Genen mit spezifischer Krankheitsrelevanz liegt dieser Anteil sogar bei 84 %. Dr. Jonas Baumann, Leiter der Zebrafisch-Facility am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), erklärt: „Durch die sehr hohe genetische Ähnlichkeit eignet sich das ZLM hervorragend, um bereits in einem sehr frühen Stadium zu testen, ob ein Wirkstoff abgebaut wird oder toxische Nebenwirkungen zeigt." Nach der Befruchtung bilden die Larven bereits in den ersten 48 Stunden ein Organsystem aus, das dem des Menschen ähnelt. So lässt sich sehr genau beobachten, ob es Auffälligkeiten oder Störungen in der Entwicklung einzelner Organe gibt, die möglicherweise durch den zugesetzten Wirkstoff ausgelöst werden. „Das lässt sich so viel besser testen als mit einfachen Zellkulturmodellen. Nicht nur beispielsweise die Nieren oder die Leber, sondern auch komplexe Entwicklungsanomalien des Herzens wie Herzschlagraten und Herzrhythmusstörungen und sogar Immunantworten können so erkannt werden", sagt Baumann. Gemäß EU-Richtlinien werden Tests mit befruchteten Zebrafischeiern bis zu einem Alter von 120 Stunden nach Befruchtung der Eizelle als fortgeschrittenes Zellexperiment gewertet. „Aus diesem Grund haben wir die außergewöhnliche Möglichkeit, in einem in vitro-Experiment komplexe in vivo-Abläufe nachzuvollziehen“, sagt Baumann.
Aufgrund seines enormen Potenzials trägt das ZLM dazu bei, die Zahl der erforderlichen Tierversuche zum Beispiel an Nagetieren und Säugetieren zu verringern und erfüllt damit ein Kriterium im Sinne von Reduce, Replace und Refine, auch bekannt als 3R-Prinzip. Das 3R-Prinzip ist ein wichtiger Grundsatz bei der Planung und Umsetzung von Tierversuchen. Das ZLM trägt dabei nicht nur zur Reduzierung von Tierversuchen als Ersatzmethode bei, sondern ist auch insbesondere als Refinement-Methode anzusehen. „Durch die externe Befruchtung der Eier, also außerhalb des mütterlichen Körpers, erfolgt die Gewinnung der für die Versuche eingesetzten Embryonen und Larven völlig non-invasiv ohne jegliches Leiden für die Elterntiere“, erklärt Jonas Baumann.
Das ZLM wird bereits in verschiedenen Forschungsbereichen am HIPS eingesetzt: insbesondere bei der Untersuchung der Wirksamkeit von Wirkstoffkandidaten gegen humanpathogene Bakterien, der Untersuchung des Verhaltens von Wirkstoffen im Organismus (z.B. deren Verstoffwechselung oder Ausscheidung) oder der Evaluation von potenziellen toxischen Nebenwirkungen. Letzteres wird nun auch mit Helmholtz-Kolleg:innen am CISPA Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit in einem gemeinsamen Kooperationsprojekt vorangetrieben. Die Larvenentwicklung wird mit Methoden des maschinellen Lernens durch einen bildbasierten Ansatz automatisch analysiert. So können neue Wirkstoffe schon in einem sehr frühen Stadium auf ihre Sicherheit getestet werden, was den gesamten Prozess der Arzneimittelforschung beschleunigen wird.
Im vergangenen Sommer wurde das Zebrafisch-Team am HIPS vom saarländischen Umweltministerium mit dem Forschungspreis „Alternativen zu Tierversuchen“ ausgezeichnet. Modellsysteme wie das Zebrafisch-Larvenmodell werden die Notwendigkeit von Tierversuchen zwar nicht vollständig ersetzen können, haben aber großes Potenzial, den Bedarf an Versuchstieren zu reduzieren und spielen bereits eine wichtige Rolle in der präklinischen Arzneimittelentwicklung.