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Temperaturgesteuerter Wirkstofftransport

Forschende verwenden innovative Flüssigkristalle für die Verabreichung von Wirkstoffen durch die Haut

Saarbrücken, 04. Oktober, 2023 — Biologische Membranen bestehen zu einem großen Teil aus Phospholipiden, die sowohl flüssige als auch kristalline Eigenschaften besitzen. Diese Eigenschaft hat sich nun ein Team um Claus-Michael Lehr am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) zur Entwicklung neuer thermotroper Flüssigkristallsysteme nun zunutze gemacht. Das neu entwickelte multifunktionale Material kann durch thermische Reize seinen Aggregatzustand ändern und so die gezielte Freisetzung von Wirkstoffen ermöglichen. Die thermotropen Flüssigkristallformulierungen werden von Hautzellen gut vertragen, was eine Voraussetzung für künftige Anwendungen ist. Das Team hat seine Ergebnisse in der Fachzeitschrift European Journal of Pharmaceutics and Biopharmaceutics veröffentlicht.

Das Konzept für die thermotropen Flüssigkristalle wurde ursprünglich in der Ukraine, in der Gruppe von Prof. Iryna Kravchenko, entwickelt. Nachdem Prof. Kravchenko und Dr. Mariia Nesterkina in Folge des russischen Angriffskrieges die Ukraine verlassen mussten, können sie nun ihre Forschung in Saarbrücken am HIPS fortsetzen. Finanziell unterstützt werden sie dabei von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. In enger Zusammenarbeit mit Kolleg:innen, die in der Ukraine geblieben sind, konnten Mariia und Iryna die hochmoderne Ausstattung des HIPS nutzen, um die physikalischen Eigenschaften der Flüssigkristalle als Träger für Wirkstoffe genauer zu erforschen. Die Co-Autor:innen der Arbeit in der Ukraine sind Physiker, die dem Institut für Szintillationsmaterialien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine angehören. "Wir stehen in regelmäßigem Austausch mit der Deutsch-Ukrainischen Akademischen Gesellschaft, einer Organisation zur Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ukraine. Dies erhöht die Sichtbarkeit ukrainischer Forschender und ihrer Leistungen und unterstützt die Karriereentwicklung der Mitglieder und Nachwuchswissenschaftler:innen in der Ukraine", sagt Mariia, Alexander von Humboldt Postdoc-Stipendiatin und Erstautorin der Studie.

Das Team hat innovative Flüssigkristalle (LCs) entwickelt, die als multifunktionales nanostrukturiertes Material für die Verabreichung von Wirkstoffen über die Haut dienen. "Die physikalischen Eigenschaften dieses weichen Materials hängen in erster Linie von der Temperatur als äußerem Auslöser ab. Daher werden die Kristalle als thermotrop oder thermoresponsiv bezeichnet.", erklärt Claus-Michael Lehr, Leiter der Abteilung Wirkstofftransport über Biologische Barrieren am HIPS. "Diese Zusammensetzung wird auf der Basis von Naturprodukten - Cholesterinestern und mono-/bicyclischen Terpenoiden - hergestellt." Die Besonderheit dieses Systems besteht darin, dass es bei normaler menschlicher Hauttemperatur von einem kristallinen in einen flüssigkristallinen Zustand übergeht. Die Flüssigkristallformulierung schmilzt praktisch auf der Haut und ermöglicht die Freisetzung der Wirkstoffe. Diese Wirkstoffe können dann sowohl in die Haut, als auch durch die Haut hindurch transportiert werden. Diese beiden Verabreichungswege wurden an Hautproben von Patienten, die sich einer Operation unterzogen, demonstriert. Die thermoresponsiven LC-Formulierungen können bei der Behandlung von Haut- und Weichteilinfektionen, die durch eine Reihe von Mikroorganismen verursacht werden, von Vorteil sein.

Künftige Anwendungen werden von dieser Methode der Wirkstoffabgabe profitieren, da die LCs vielseitige und anpassungsfähige Systeme aus weicher Materie darstellen, die sich ideal für "smarte" Wundverbänden eignen. "Diese fortschrittlichen Verbände haben das Potenzial, Veränderungen der Wundtemperatur kontinuierlich zu überwachen und in Echtzeit darauf zu reagieren", erklärt Anna Hirsch, Leiterin der Abteilung Wirkstoffdesign und Optimierung. "Durch die Verwendung dieser thermotropen LC-Formulierungen zur Verabreichung von Antibiotika, könnte eine möglicherweise auftretende Infektion direkt behandelt werden, wenn die Wundtemperatur ansteigt.“ Durch diesen reaktiven Freisetzungsmechanismus werden zusätzliche Sensoren und komplizierte elektronische Komponenten überflüssig, was den Herstellungsprozess vereinfacht und die Verwendbarkeit verbessert. Das Team ist derzeit damit beschäftigt, ein Wirkstoffreservoirsystem zusammen mit einer "smarten" Wundauflage zu entwickeln. Diese weiteren Untersuchungen sind für die Entwicklung geeigneter Arzneimittelformulierungen unerlässlich, um die Flüssigkristalle in die klinische Anwendung zu bringen.

ORIGINALPUBLIKATION:

Nesterkina M., Vashchenko O., Vashchenko P., Lisetski L., Kravchenko I., Hirsch A.K.H. & Lehr C.-M. Thermoresponsive cholesteric liquid–crystal systems doped with terpenoids as drug delivery systems for skin applications. European Journal of Pharmaceutics and Biopharmaceutics, 2023. DOI: 10.1016/j.ejpb.2023.09.002


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